Kunst trifft Menschenrechte: Wegweisende Kooperationen zwischen NGOs und Kunst

Menschenrechtsarbeit besteht aus Dokumentieren und Aufzeigen. Doch diese Mittel verfehlen zunehmend ihr Ziel: zu empören und zu solidarisieren. Ein vielversprechendes Medium, um dieses Problem zu lösen, kann die Kunst sein. Die Studie „From human rights documentation towards arts-based interventions: NGO collaborations with artists and the reimagining of human rights“ von Ron Dudai und Paul Gready analysiert genau diesen Trend. Sie zeigt, wie künstlerische Kooperationen nicht nur neue Zielgruppen erschließen, sondern auch die Menschenrechtsarbeit selbst verändern können. Dabei bezieht sich die Arbeit auf Beispiele von israelischen NGOs.

 

Die Krise klassischer Menschenrechtsarbeit

Menschenrechtsorganisationen arbeiteten jahrzehntelang nach einem zentralen Prinzip: die Wahrheit ans Licht zu bringen. Berichte über Folter, Vertreibung oder Repression sollten durch ihre bloße Existenz moralische Betroffenheit erzeugen und politischen Druck ausüben. Doch dieses Modell stößt zunehmend an seine Grenzen. Die Welt ist nicht mehr dieselbe wie vor zwanzig Jahren. Populismus, „alternative Fakten“ und die zunehmende Fragmentierung öffentlicher Diskurse machen es schwieriger, ein gemeinsames Verständnis von Wahrheit zu etablieren. NGOs müssen daher neue Wege finden, um durch das Dickicht aus Skepsis, Gleichgültigkeit und Informationsüberflutung durchzudringen.

 

Kunst als Antwort auf die Post-Truth-Ära

Die Studie argumentiert, dass Kunst ein mächtiges Instrument sein kann, um dieser Herausforderung zu begegnen. Nicht, weil sie objektivere Informationen liefert – sondern weil sie andere Zugänge zur Realität schafft. Während klassische Berichte meist juristisch und sachlich aufgebaut sind, ermöglichen künstlerische Ausdrucksformen die Darstellung emotionaler, kollektiver oder auch visionärer Wahrheiten.

Ein zentrales Beispiel dafür ist der Film Smile, and the World Will Smile Back, den die NGO B’Tselem gemeinsam mit einer palästinensischen Familie produzierte. Die Kameraarbeit liegt dabei in den Händen der Betroffenen selbst. Das Ergebnis: kein dramatischer Blockbuster, sondern eine ruhige, aber tief verstörende Alltagsbeobachtung, die zeigt, wie tiefgreifend selbst routinierte Hausdurchsuchungen das Leben von Menschen prägen. Diese Perspektive wäre in einem juristischen Bericht kaum zu fassen – sie erschließt sich erst durch die Kombination von Bild, Ton und subjektiver Kamera.

Kunst schafft andere Zugänge zur Realität

Ein weiteres anschauliches Beispiel ist das Projekt “Illustrators Draw Arrest” von der Organisation Parents Against Child Detention. Israelische Illustrator*innen stellten jede Phase einer Verhaftung palästinensischer Kinder dar – von der nächtlichen Festnahme bis hin zu den psychologischen Auswirkungen. Die Bilder sprachen eine emotionale Sprache, die auf das Thema aufmerksam machte und die Betrachter*innen emotionalisierte.

 

Neue Zielgruppen durch emotionale Zugänge

Ein weiterer Vorteil künstlerischer Projekte liegt laut der Studie darin, dass sie auch Menschen erreichen, die mit klassischen NGO-Materialien wenig anfangen können. Berichte voller Fußnoten und Statistiken wirken auf viele abschreckend – ein Theaterstück, eine Fotoausstellung oder eine interaktive VR-Erfahrung hingegen kann emotional berühren, zum Nachdenken anregen oder gar Diskussionen im privaten Umfeld auslösen.

Die Ausstellung 50 Years: Fifty Portraits of Palestinians Born in 1967, ebenfalls von B’Tselem mitkuratiert, zeigt dies eindrücklich. Porträts und persönliche Geschichten ersetzen hier politische Schlagwörter. Die „banale Gewalt“ – also die alltägliche und oft übersehene Härte des Lebens unter Besatzung – wird so auf eine stille, aber nachhaltige Weise sichtbar.

 

Visionen einer anderen Zukunft

Ein besonders innovativer Aspekt der künstlerischen Zusammenarbeit ist die Fähigkeit, sich mögliche Zukünfte vorzustellen. Während klassische Menschenrechtsarbeit oft im „Hier und Jetzt“ verhaftet bleibt – dokumentierend, klagend, fordernd – erlaubt Kunst den Blick nach vorn. Was wäre, wenn palästinensische Geflüchtete tatsächlich zurückkehren könnten? Wie könnte ein Leben nach der Besatzung aussehen?

Das Projekt Imagined Testimonies from Potential Futures der NGO Zochrot widmet sich genau dieser Frage. Es sammelt fiktive Aussagen aus einer Zukunft, in der Gerechtigkeit Realität geworden ist – nicht als utopische Spielerei, sondern als ernsthafte Einladung, sich Alternativen zum Status quo vorzustellen.

 

Künstlerische Freiheit vs. NGO-Botschaft

Natürlich ist die Zusammenarbeit zwischen NGOs und Künstler*innen nicht immer konfliktfrei. NGOs verfolgen meist klare Ziele, müssen ihre Glaubwürdigkeit schützen und achten auf politische Feinfühligkeit. Kunstschaffende hingegen arbeiten häufig prozesshaft, experimentell und mit einem Anspruch auf Autonomie. Die Studie beschreibt diesen Spannungsbogen sehr differenziert: Manche Projekte entstehen bewusst unabhängig von Berichten und Zeug*innen-Aussagen, um Reibung zu vermeiden. In anderen Fällen werden klare Leitlinien formuliert, etwa keine Manipulationen von Zeug*innen-Aussagen oder Übertreibungen bei der Darstellung von Gewalt.

Der Künstler Arkadi Zaides imitiert eine Szene aus dem Videomaterial der Organisation B’Tselem.

Ein gutes Beispiel für diesen Balanceakt ist das Werk Capture Practice von Arkadi Zaides. Der Künstler nutzt Originalvideos aus dem „Camera Project“ von B’Tselem, in dem palästinensische Zivilist*innen Siedlergewalt dokumentieren. Doch statt die Videos lediglich zu zeigen, filmt sich Zaides selbst dabei, wie er die Bewegungen der Täter*innen imitiert. Der Körper des Künstlers wird zur Projektionsfläche, zur Brücke zwischen Zuschauenden und Videozeugnis – eine künstlerische Interpretation, die verstört, provoziert, aber auch neue Denkprozesse anstößt.

 

Kunst für und mit NGOs – eine andere Art Storytelling

Die Studie von Dudai und Gready plädiert nicht dafür, klassische Menschenrechtsarbeit aufzugeben. Berichte, Zahlen und Zeugen bleiben unverzichtbar, wenn es um juristische Prozesse oder politische Forderungen geht. Da aber auch emotionale Resonanz und narrative Vielfalt wichtig sind, kann Kunst eine entscheidende Ergänzung sein.

Sie eröffnet Räume des Erzählens, der Empathie und der Imagination. Sie hilft, Zielgruppen jenseits der üblichen Kreise zu erreichen. Und sie macht es möglich, sich Welten vorzustellen, die noch nicht existieren – aber vielleicht möglich werden, wenn wir sie erst einmal denken lernen.

Für NGOs bedeutet das: Kooperationen mit Künstler*innen sind nicht nur ein kreativer Zusatz, sondern ein strategisches Mittel zur Erneuerung der eigenen Praxis. Sie fordern zwar neue Denkweisen und ein gewisses Maß an Offenheit. Doch sie bergen das Potenzial, Menschenrechte auf eine Weise zu kommunizieren, die im Gedächtnis bleibt – und im besten Fall auch etwas verändert.

 

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