Megatrends: Das bedeuten sie für NPOs - Teil 1: Der 4. Sektor
Die Glaskugel, die uns die Zukunft zeigt, gibt es freilich nicht. Aber es gibt Megatrends, die uns zumindest erahnen lassen, wo die Reise hingeht. Wir haben uns die vom Zukunftsinstitut identifizierten Megatrends genauer angesehen und versucht, die Bedeutung dieser globalen Entwicklungen für Non-Profits herauszuarbeiten. Im ersten Teil unserer Artikel-Serie widmen wir uns der Entstehung des vierten Sektors und den damit verbundenen Megatrends.
Was versteht man unter Megatrends?
Megatrends sind langfristige, gesellschaftliche Entwicklungen, die zu grundlegendem Wandel führen. Sie sind hoch komplex, dynamisch und beeinflussen sich gegenseitig. Außerdem erlauben sie eine Prognose zukünftiger gesellschaftlicher Entwicklungen.
Vier Kriterien müssen erfüllt sein, damit Trends zu Megatrends werden:
- Sie haben eine Dauer von mehreren Jahrzehnten (ca. 50 Jahre).
- Sie beeinflussen alle Bereiche der Gesellschaft.
- Sie sind global – wenn auch nicht überall gleichermaßen stark ausgeprägt.
- Sie sind komplex, mehrdimensional und es entsteht eine Dynamik durch Wechselwirkungen
Für die Definition und Beschreibung der Megatrends greife ich auf die sehr empfehlenswerte Website des Zukunftsinstitutes zurück. Hier findest Du auch viele weitere Artikel zum Weiterlesen: Zukunftsinstitut
Um zu verdeutlichen, wie die Megatrends ineinander greifen, hat das Zukunftsinstitut eine Megatrends Map erstellt:
Ein weiterer Player im 3-Sektoren-Modell
Staat, Wirtschaft, Gemeinnützigkeit – das ist die heilige Sektoren-Dreifaltigkeit, wie man sie kennt. Zukünftig wird sie sehr wahrscheinlich Gesellschaft bekommen: Ein vierter Sektor ist im Entstehen. Angetrieben durch vier zentrale Megatrends bildet sich eine weitere Akteurin heraus – die Gesamtheit engagierter Menschen. Sie ist freilich nicht neu, bekommt aber immer mehr Relevanz als Stakeholder in gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Fragen. Um zu verstehen, warum das so ist und was das für den dritten Sektor – die NPOs – bedeutet, werfen wir einen Blick auf die vier angesprochenen Megatrends. Für alle, die es eilig haben, gibt es am Ende eine Zusammenfassung der wichtigsten Auswirkungen auf die Non-Profit-Arbeit.
1. Megatrend Globalisierung
Globalisierung ist ein Trend, der schon seit einigen Jahrzehnten besteht und stark fortgeschritten ist. Neben der globalisierten Wirtschaft und engen politischen Verflechtungen hat das auch soziale Auswirkungen. Gesellschaften rücken näher aneinander – die Welt wird “kleiner” und der “eigene Hinterhof” größer. Geografische Grenzen und Herkunft werden unwichtiger. Was stattdessen zählt sind gemeinsame Interessen, innere Einstellungen und Wertvorstellungen.
Wir erleben gerade weltweit gespaltene Gesellschaften, deren Teile sich eher mit ideologisch ähnlich denkenden Menschen am anderen Ende der Welt solidarisieren, als mit ideologisch fremden Teilen derselben Nation. Diese globale Solidarität, die dank dem Megatrend Konnektivität möglich wird, lässt zunehmend weltweite Bewegungen entstehen. Zwei bekannte Beispiele sind u.a. #metoo und Fridays for Future. Auch beim Thema Flüchtlingshilfe zeigt sich diese Entwicklung: Menschen nehmen Probleme selbst in die Hand, anstatt auf eine Lösung vom Staat zu warten. Das hat seinen Ursprung nicht nur im schwindenden Vertrauen in die Politik, sondern auch im Erstarken der Werte Selbstbestimmung, Umweltbewusstsein, Pioniergeist, Wir-Kultur und Offenheit. Gewinnorientierung und materielle Bereicherung treten in den Hintergrund (sh. Das Manifest der Generation Global).
Spannend ist, dass es innerhalb des Megatrends Globalisierung auch Strömungen hin zu einer “Glokalisierung” gibt. Diese Wortschöpfung beschreibt eine globale Denkweise, die sich im Lokalen manifestiert. Ein Beispiel dafür ist u.a. nachhaltiger lokaler Konsum als Gegenbewegung zu umweltschädigenden und ausbeuterischen globalen Produktions- und Lieferketten.
Allianzen für gemeinnützige Ziele
All das bedeutet, dass NPOs nicht mehr alleine auf weiter Flur kämpfen. Sie erhalten wertvolle Unterstützung von lose organisierten Bewegungen und Individuen, die ihre Werte und Ziele teilen. Globale Solidarität entwickelt eine stärkere Kraft, die besonders international agierenden Organisationen zugute kommen kann. Ob Entwicklungs- und Katastrophenhilfe, Klimawandel und -gerechtigkeit, Anti-Kapitalismus-, Frauenrechts-, LGBTQI-, Rassismus- oder Flüchtlingsarbeit: Weltweit gibt es Betroffene und Menschen, die sich mit ihnen solidarisieren. Auch lokale/regionale/nationale NPOs profitieren von diesem Megatrend, da sich globale Probleme immer auch im Kleinen manifestieren.
Es wird für NPOs also zunehmend wichtiger, klare Positionen zu weltgesellschaftlichen Themen einzunehmen und sich in der Kommunikation stärker auf internationales Publikum einzustellen. Auch internationale Kooperationen und verstärkte Zusammenarbeit über (Organisations-) Grenzen hinweg gewinnen an Bedeutung. Die aufgeklärte, engagierte Weltgesellschaft hat kein Verständnis für Konkurrenzdenken, wenn es darum geht, gemeinsame Ziele zu erreichen. Bündnisse und Dach-Organisationen können Spendengelder fair verteilen und den Impact der einzelnen Organisationen vervielfachen.
Außerdem sollten NPOs diesem Megatrend mit Offenheit begegnen und mit engagierten Initiativen und Einzelpersonen kooperieren: Hier liegt großes Potential für die Ehrenamtlichkeit verborgen. Menschen, die etwas bewegen wollen, dürfen nicht an bürokratischen Hürden oder starren Organisationsstrukturen scheitern. Vielmehr sollten NPOs zunehmend als Anlaufstellen gesehen werden, die Unterstützung, Erfahrung und nach Möglichkeit Ressourcen zum privaten Engagement beisteuern können.
Kein Trend bleibt ohne Kritik
Da jede Bewegung auch Gegenbewegungen auf den Plan ruft, ist mit einem erneuten Aufwallen rückwärts gerichteter Ideologien zu rechnen. Teilweise erleben wir schon heute – angefeuert durch die Pandemie – eine Rückkehr zum Konzept Nationalstaat. Dies wird von Expert*innen häufig als Überforderungsreaktion auf die zunehmende Komplexität der Welt gedeutet. Obwohl diese Entwicklung nicht verharmlost werden darf, ist sie aber doch wesentlich schwächer als der Trend zu einer “solidarischen Weltgesellschaft”. Das Zukunftsinstitut sieht in diesem Zusammenhang vier mögliche Zukunftsszenarien: Der Corona-Effekt
2. Megatrend Konnektivität
Mit diesem Trend ist nicht nur die technische Komponente weltweiter Vernetzung gemeint, sondern in erster Linie deren kulturelle und soziale Auswirkungen. Alle Bereiche unseres Lebens digitalisieren sich, was eine enorme Veränderung unserer Gesellschaften nach sich zieht. Das Zukunftsinstitut spricht hier sogar von einem “epochalen Evolutionssprung”. Gemeinsam mit dem Megatrend Globalisierung sorgt diese Entwicklung dafür, dass die Menschen weltweit enger zusammenrücken und Entfernung keine besonders große Rolle mehr spielt.
Die Welt wird dadurch komplexer und differenzierter. Informationen rasen in sekundenschnelle um den Globus, grenzüberschreitende Gemeinschaften werden einfacher möglich und die Trennung zwischen “real” und “virtuell” ist spätestens seit der Pandemie nicht mehr aufrecht zu erhalten. Die beiden Sphären haben sich nahtlos verwoben. Gleichzeitig steigt aber auch das Bewusstsein für einen vernünftigen Umgang mit digitaler Technologie und “Offline-Zeit” wird qualitativ höher bewertet als früher.
Digitales Netzwerk für eine bessere Welt
Dieser Megatrend beeinflusst Non-Profits auf mehrere Arten: Einerseits verändert es die Art der Zusammenarbeit, andererseits die Kommunikationsmöglichkeiten mit (potentiellen) Spender*innen. Doch Digitalisierung ist nicht nur ein Weg um z. B. Online-Spenden zu sammeln oder Unterstützende zu informieren – sie wird zum grundlegenden Betriebssystem unserer Gesellschaft. NPOs können diese Entwicklung nutzen, um weltweit Awareness für ihre Arbeit zu schaffen, globale Solidarität zu erzeugen und virale Kampagnen zu lancieren.
Da unsere Programme immer schlauer werden (Stichwort: Künstliche Intelligenz), benötigt es neue Konzepte der Mensch-Maschine-Zusammenarbeit – auch in Organisationen. Algorithmen und KI können außerdem auch für die gute Sache eingesetzt werden. Weiters ist davon auszugehen, dass die Verzahnung von realer und virtueller Welt fortschreitet (z. B. in Form von AR, VR und dem Metaversum). NPOs sollten sich also darauf vorbereiten, die Möglichkeiten, die diese Entwicklung für Fundraising, Awareness und Communitybuilding bereithält, für sich zu nutzen.
3. Megatrend Individualisierung
“Ihr seid alle Individuen!”
“Ja, wir sind alle Individuen!”
“Und ihr seid alle völlig verschieden!”
“Ja, wir sind alle völlig verschieden!”
“Ich nicht.”
Dieses Zitat aus “Das Leben des Brian” ist zwar schon älter, beschreibt den Trend der Individualisierung aber sehr treffend. Menschen möchten aus der Masse herausstechen, sich selbst verwirklichen und sich eine einzigartige Identität erschaffen. Das Web 2.0 hat mit Social Media eine Möglichkeit geschaffen, das zu realisieren: Mehr denn je präsentieren wir uns (bzw. das, von dem wir wollen, dass es von anderen wahrgenommen wird) auf unseren Profilen, teilen Meinungen, Fotos, Lebensweisheiten, Erfahrungen mit anderen. Selbstverwirklichung und Individualität wurden elementarer Teil der Kultur, Werte wie Selbstbestimmung und Wahlfreiheit zentral.
Allerdings meint Individualisierung nicht Vereinzelung. Vielmehr wird das Ich als Teil des Wirs gesehen, als Individuum in einer Gemeinschaft von Individuen – eben genau so wie das Eingangszitat anschaulich beschreibt. Es vollzieht sich eine Wandlung vom Ich, das sich darstellen muss, zu einem Wir, das kreativ gestalten will.
Anspruchsvolle Arbeitnehmer*innen und aktivere Unterstützungsmöglichkeiten
Für NPOs hat das auf zwei Ebenen Auswirkungen: Einerseits beeinflusst es, wie attraktiv Organisationen als zukünftige Arbeitgeberinnen wahrgenommen werden, andererseits wandelt sich die Unterstützung weg vom reinen Spenden hin zu ganzheitlichem Engagement.
Als Arbeitgeberinnen sollten NPOs dem Trend zu mehr Selbstbestimmung und Individualismus entgegenkommen. Kommende Generationen möchten ihre Werte auch in ihrem Arbeitsleben realisieren können. Das bedeutet z. B. freie Zeiteinteilung, die Möglichkeit zu remote work, vielfältige und abwechslungsreiche Aufgaben und den Freiraum, sich kreativ einbringen und eigene Ideen umsetzen zu können. Dafür erhalten NPOs engagierte, motivierte Mitarbeiter*innen mit einem starken Sinn für Gemeinschaft und globale Solidarität.
Auch sollten NPOs diesen gesellschaftlichen Wandel in ihre zukünftigen Strategien einbeziehen. Spender*innen sollten nicht als reine Geldgeber*innen betrachtet werden, denn sie werden zukünftig noch viel mehr Potential haben als das. Sie werden sich verstärkt in direkte und virtuelle Aktionen einbringen, möchten fundiert informiert werden und mit ihrem eigenen Lebensstil zum Erreichen einer Mission beitragen. Sie werden nicht mehr “nur” Geld geben und hoffen, dass andere die Probleme unserer Zeit lösen – sie suchen nach Möglichkeiten, selbst aktiv zu werden. NPOs können diesem Wunsch mit entsprechenden Angeboten nachkommen und so loyale, aktive Unterstützende gewinnen.
4. Wissenskultur
Globalisierung und Konnektivität sorgen auch dafür, dass Wissen wie nie zuvor global verfügbar ist. Die Menschheit hat laut dem Zukunftsinstitut noch nie einen so hohen Wissensstand erreicht. Wissen und Bildung ist digital, dezentral und selbstorganisiert geworden. Das Modell “erst lernen, dann arbeiten” ist einem Modell des lebenslangen Lernens gewichen – ein wichtiger Wandel auch im Hinblick auf die zukünftig essentiellen Digital Skills. Wir stehen vor der Herausforderung, multiple und komplex ineinandergreifende Krisen meistern zu müssen. Hierfür braucht es zukünftig gute analytische Kompetenz, Resilienz und Kreativität – Fähigkeiten, die die kommenden Generationen stärker ausprägen werden.
Zeitgleich erleben wir gerade aber auch einen unangenehmen Nebeneffekt der Dezentralisierung von Wissen: Fakten werden bezweifelt, “alternative Fakten” geschaffen und Falschinformation findet sich überall im Netz. Es wird also auch zu einer bedeutenden Fähigkeit werden, Informationen selbstständig zu prüfen und fundiert zu recherchieren.
Lebenslanges Lernen und Bildungszugang
Non-Profits sollten diesen Megatrend intern berücksichtigen und ihren Mitarbeitenden ein Arbeitsumfeld ermöglichen, das lebenslanges Lernen zulässt. Menschen möchten schlauer werden, neue Skills erlernen und sich weiterentwickeln – ganz im Sinne der Selbstverwirklichung. Ist dieser Freiraum nicht gegeben, werden sie sich vermutlich rasch eine andere Arbeit suchen. Auch interne Weiterbildungsangebote, Resilienz-Trainings und Coachings sind bestimmt kein falscher Ansatz. Auch der Megatrend New Work spielt hier eine wichtige Rolle.
Programmatisch ist der Trend ebenfalls relevant, vor allem für thematisch an Bildung und Chancengleichheit arbeitenden Organisationen. Der Zugang zu Bildung und die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe werden künftig stark vom Zugang zu digitalen Mitteln abhängig sein. Wo es keine Schulen, Universitäten und Lehrende gibt, könnte digitales Homeschooling eine zukünftige Lösung sein. Außerdem sollte man diesem Trend in Hinblick auf Falschinformation mit erhöhter Achtsamkeit begegnen: Gerüchte und “alternative Fakten” können auch die eigene Organisation bzw. projektrelevante Themen betreffen und die notwendige Unterstützung torpedieren.
Zukunftsaussichten
Globalisierung, Konnektivität, Individualisierung und Wissenskultur sind die Megatrends, die die Entstehung eines vierten Sektors, der “Netzwerkgesellschaft” am stärksten vorantreiben. Er besteht aus engagierten und wertorientierten Individuen und Initiativen, die sich aktiv in gesellschaftliche Belange einbringen und Wandel mitgestalten. So wird auch eine zunehmende Verschränkung der Sektoren stattfinden – eine Entwicklung, die heute z. B. anhand von Unternehmenskooperationen mit NPOs oder Social Start ups bereits begonnen hat.
Nichtsdestotrotz ist Zukunft naturgemäß unbekannt und wird durch das beeinflusst, was wir heute tun und unterlassen. Disruptive Entwicklungen können diese Megatrends in neue Richtungen lenken, sie befeuern oder auch bremsen.
Wir steuern auf eine Zukunft zu, die unsicher, komplex und krisenbehaftet ist. NPOs waren immer schon die Brandbekämpferinnen, Systemkritikerinnen und Problemlöserinnen der Welt. Das wird sich zukünftig nicht nur nicht ändern, sondern einen immer größeren Stellenwert in unseren Leben einnehmen.
Zusammenfassung
So wirken sich die vier Megatrends Globalisierung, Konnektivität, Individualisierung und Wissenskultur auf die Arbeit von NPOs aus:
- Es wird mehr globale Solidarität geben, aus der globale Bewegungen entstehen – Kommunikation sollte also international ausgerichtet sein.
- Grenzüberschreitende Multi-Stakeholder Allianzen werden immer wichtiger, um Veränderung zu bewirken.
- Digitale Technologie und Netzwerke verändern die Art unserer Zusammenarbeit und bieten die Möglichkeit global Awareness zu schaffen und zu mobilisieren.
- Künstliche Intelligenz, AR, VR und das Metaversum können zukünftig enormes Potential für die Non-Profit-Arbeit bieten.
- NPOs sollten sich als Arbeitgeberinnen flexibel auf die Anforderungen kommender wertorientierter und selbstbestimmter Generationen einstellen (Megatrend New Work).
- Unterstützende werden sich intensiver und kreativer einbringen wollen, als “nur” mit einer Spende.
- Lebenslanges Lernen und Selbstverwirklichung wird Arbeitnehmer*innen zukünftig noch wichtiger werden.
- Der Zugang zu digitalen Ressourcen wird zukünftig die Chancen auf Bildung und Teilhabe stark beeinflussen.
Insgesamt könnte es eine gute Zeit für Non-Profits werden. Auch wenn das Spendenvolumen möglicherweise aufgrund der zunehmenden Unsicherheit und der aktuellen und zukünftigen Krisen stagnieren oder zurückgehen könnte: Die kommenden Generationen werden aktiv mitgestalten, sich einbringen und Lösungen finden wollen. Der vierte Sektor kann ein mächtiger Verbündeter für NPOs werden.