„Demokratie ist mancherorts ein Schimpfwort” – Cathleen Bochmann von Aktion Zivilcourage über das Projekt “Zivilgesellschaft stärken und schützen”
Auf LinkedIn stieß ich auf ein Posting über die Broschüre “Zivilgesellschaft stärken und schützen” von Aktion Zivilcourage e. V. – ein spannendes und wichtiges Thema, wo unsere Gesellschaft doch zunehmend gespalten ist und sich radikalisiert. Im Gespräch mit Dr. Cathleen Bochmann, Referentin im Verein für den Bereich Beratung von Zivilgesellschaft und Kommunen, stellt sie die Arbeit des Vereins und besonders das Projekt vor, in dessen Rahmen die Broschüre entstanden ist.
Cathleen, starten wir doch ganz von vorne. Was ist Aktion Zivilcourage und warum gibt es euch?
Aktion Zivilcourage wurde 1998 gegründet, als direkte Reaktion auf rechtsextreme Übergriffe – insbesondere auf Jugendliche – in der Sächsischen Schweiz. In Pirna, wo wir bis heute unseren Sitz haben, gab es damals die sogenannte „Skinhead-Sächsische Schweiz“. Das war eine rechtsextreme Kameradschaft, die später verboten wurde. Diese Gruppierung war nicht nur gewalttätig, sondern auch aktiv in der rechtsextremen Jugendarbeit.
Die Gründer des Vereins wollten dem etwas entgegensetzen. Sie wollten zeigen, dass Demokratie eine attraktive Form des Miteinanders sein kann, wollten eigene, demokratisch geprägte Strukturen aufbauen. Unser Ziel war und ist es, Menschen zu befähigen, in ihrer eigenen Gemeinde – gerade im ländlichen Raum – mitzugestalten. Wir möchten positive Erfahrungen mit demokratischen Werten ermöglichen: Respekt, gewaltfreie Konfliktlösung, Teilhabe. Und das über alle Altersgruppen hinweg – angefangen bei Projekten im Kindergarten bis hin zu Angeboten für Senior*innen, Bürgermeister*innen, Unternehmen, Vereine und natürlich Jugendliche.
Ihr arbeitet also generationenübergreifend?
Genau. Wir gliedern unsere Arbeit in drei große Bereiche:
- Kinder, Jugendliche und pädagogische Fachkräfte,
- Engagierte – ob in Strukturen wie Vereinen oder als Einzelpersonen,
- Kommunale Verantwortungsträger*innen – also Bürgermeister*innen, Verwaltungen, Polizei und andere Akteur*innen der kommunalen Prävention.
Ich selbst arbeite im dritten Bereich, also mit Kommunen.
Wir wollen allen Zielgruppen Unterstützung geben, bei dem was sie brauchen, um gut miteinander leben zu können und ein demokratisches Zusammenwirken von Zivilgesellschaft und staatlichen Stellen fördern.
Und das alles deutschlandweit?
Teils, teils. Manche Projekte, wie das Projekt „DIAS“ der Mercator-Stiftung zu Dialogformaten sind auf Ostdeutschland fokussiert. Andere, etwa der Kooperationsverbund kommunale Konfliktbearbeitung laufen bundesweit. Aber gerade unsere Schulbegleitungen und Workshops für Kinder und Jugendliche finden meist in Sachsen statt.
Kommen wir zur Broschüre „Zivilgesellschaft stärken und schützen“. Was war der Anlass, sie zu erstellen?
Die Broschüre entstand im Rahmen eines dreijährigen Modellprojekts des Bundesfamilienministeriums. Der Hintergrund: Es gibt in Deutschland ca. 400 sogenannte „Partnerschaften für Demokratie“ (PfD), bei denen eine kommunale Stelle – meist ein Landratsamt oder eine Stadtverwaltung – mit einem freien Träger zusammenarbeitet, um Demokratiearbeit vor Ort zu leisten.
Im Rahmen des Gesamtkonzepts der Bundesregierung gegen Rechtsextremismus wurde entschieden, ein Begleitprojekt für die PfD zum Thema Bedrohungslagen ins Leben zu rufen – als Teil der kommunalen Schutzkonzepte. Das Projekt startete im Dezember 2021 und lief bis Ende 2024. Wir wurden damals also eingeladen, uns dafür zu bewerben, und unser Vorschlag beinhaltete unter anderem einen Abschlussbericht. Daraus haben wir bewusst eine praxisorientierte Broschüre gemacht – als Unterstützung für die neuen PfD-Strukturen, denn seit dem 1. Januar 2025 ist „kommunale Konfliktbearbeitung und Schutzkonzepte“ ein verpflichtendes Handlungsfeld für alle PfDs.
Haben sich die Bedrohungslagen für zivilgesellschaftlich Aktive in den letzten Jahren verändert?
Das ist schwer zu sagen. Es gibt mehr Awareness – ein trauriger Auslöser war etwa der Mord an Walter Lübcke. Solche Ereignisse haben das Bewusstsein geschärft. Die Meldungen über Bedrohungen nehmen zu, ebenso aber auch die Sensibilität. Studien, etwa vom Institut für Sozialpädagogik und Sozialforschung (ISS) in Frankfurt, zeigen es gibt „Shrinking Spaces“, d.h. eine Verdrängung demokratischer Akteur*innen durch Antidemokraten. In Ostdeutschland liegt der Wert hierfür mit 16% deutlich höher als in Westdeutschland mit 5% und mehr als doppelt so viele Engagierte (28%) berichten von Angstzonen im öffentlichen Raum (West 11%). Auch die Meldungen über Bedrohungen gegen kommunale Amtstragende steigen, je nach Gemeindegröße etwas unterschiedlich.
Aber es gibt keine zentrale Statistik für alle Engagierten, kein klares Monitoring, und viele Vorfälle werden gar nicht gemeldet.
Ihr unterscheidet zwischen latenten und konkreten Bedrohungen. Wie zeigt sich das in der Praxis?
Konkrete Bedrohungen sind etwa verbale und körperliche Übergriffe, Sachbeschädigungen, Drohungen. Latente Bedrohungen sind subtiler; z.B. Delegitimierung von Demokratiearbeit, eine Verschiebung des öffentlichen Diskurses oder die Präsenz antidemokratischer Akteure und Symbole im öffentlichen Raum. Die Dynamiken der Bedrohungen schwanken stark. Manche Kommunen, in denen seit den neunziger Jahren Bedrohungen durch extremistische Strukturen zurückgedrängt worden waren, erleben plötzlich wieder neue Übergriffe – etwa gerade sehr im Jugendbereich. Es ist kein linearer Trend, nicht „immer schlimmer“ und auch nicht regional klar verteilt. Es gibt Gemeinden, wo sich die Lage deutlich verbessert hat – durch bessere Zusammenarbeit zwischen Zivilgesellschaft und Staat oder durch Professionalisierung der Aktiven, z. B. ist das Bewusstsein für den eigenen Schutz gestiegen, etwa keine privaten Telefonnummern mehr auf Websites zu stellen.
Aber es gibt auch Regionen, in denen die Mehrheit demokratieskeptisch ist, in denen Demokratie sogar ein Schimpfwort ist, wo Skepsis oder sogar Feindseligkeit gegenüber dem System herrscht. Dort ist das Engagement besonders hart. In solchen Kontexten hilft es enorm, wenn politische Verantwortungsträger wie Bürgermeister*innen aktiv unterstützen – denn wo solche Rückendeckung fehlt, fehlt auch der Schutz. Wenn die Stadtspitzen selbst nicht aktiv für Demokratie und Rechtstaatlichkeit einstehen, dann gibt es auch keinen Support für Aktive von staatlichen Stellen.
Aber die staatlichen Stellen sind selbst zunehmend Betroffene. Wir arbeiten selbst viel mit kleinen Kommunen zusammen, die häufig ehrenamtliche Bürgermeister haben. Da merkt man schon, dass das Klima gegenüber Amtstragenden rauher geworden ist. In Sachsen gibt es zum Beispiel rechtsextreme Gruppen wie die “Freien Sachsen”, die berüchtigt dafür sind, Amtstragenden vorm Wohnhaus auflauern und deren Familien zu bepöbeln. Dies wurde z.B. beim ehemaligen Landrat Mittelsachsens publik.
Diese unschöne Situation schafft auch neue Solidarität, weil Amtstragenden, die das Thema vorher vielleicht nicht auf dem Schirm hatten, dann bewusstwird, dass z. B. Menschen, die Asylarbeit vor Ort machen, schon seit Jahren mit solchen Situationen konfrontiert sind.
Leider ist sehr vieles, was engagierte Personen belastet, nicht justiziabel. Man empfindet es natürlich als bedrohlich, von Rechtsextremen auf der Straße beim Vorbeilaufen verfolgt oder angestarrt zu werden – aber es ist keine Straftat, gegen die man rechtlich etwas tun könnte.
Was war besonders überraschend in den drei Projektjahren?
Wir sind bewusst ohne große Erwartungen gestartet – das Projekt sollte ein Lernraum sein, wie sich Schutzkonzepte auf kommunaler Ebene einer Stadtgesellschaft gestalten lassen. Überraschend war, wie schwierig es teils war, Akteur*innen an einen Tisch zu bringen. Zivilgesellschaftlich Engagierte wollen oft schnelle Unterstützung, während kommunale Verantwortungsträger eine Vielzahl anderer Themen auf dem Tisch haben – von Tourismus bis Infrastruktur. Das Verständnis füreinander fehlt da manchmal.
Aber es gab auch sehr positive Überraschungen: In manchen Regionen entstanden echte Allianzen. Jugendliche Engagierte und Polizeichefs saßen plötzlich zusammen beim Kaffee und erkannten ihre gemeinsamen Ziele und gingen dann die ersten Schritte zur Zusammenarbeit. Auch die Offenheit des Ministeriums in Berlin zu unserem lernenden Projekt war bemerkenswert. Unsere Rückmeldungen aus dem ländlichen Raum wurden sehr ernst genommen. Wir hatten manchmal so eine Art Scharnierfunktion zwischen Kommunen in Südthüringen oder Niedersachsen und der Bundesebene.
Gab es konkrete Maßnahmen, die besonders erfolgreich waren?
Ja, einige. Drei Beispiele:
Stärkung jugendlichen Engagements
In einem Landkreis haben wir eine Reihe von Fachkräften – Schulsozialarbeit, mobile Jugendarbeit, Erziehungsberatungsstellen – über acht Monate hinweg qualifiziert. Themen waren u. a. rechtsextreme Strukturen, rechtliche Grundlagen, die Gestaltung von Schutzräumen in der Jugendarbeit. Parallel dazu haben wir Jugendliche mit nach Berlin genommen, ins Ministerium. Sie durften dort von ihren Erfahrungen berichten – etwa als queere Jugendliche im ländlichen Raum und wie das so ist, wenn einem die Regenbogenfahne weggenommen und angezündet wird, wenn man auf der Straße verprügelt wird. Zusätzlich gab es Selbstbehauptungstrainings für die jungen Engagierten, z. B. in einer Boxfabrik.
Dialoge zur Vertrauensbildung
In mehreren Kommunen haben wir Dialogformate durchgeführt, in denen entweder die Engagierten sich mit staatlichen Stellen austauschen konnten oder Menschen mit unterschiedlichen Meinungen aufeinandertrafen, z.B. sogenannte Demo-Slams. Dabei sahen wir immer wieder, wie wichtig es ist, den Schritt aufeinander zuzugehen, den Anderen zuzuhören, deren Perspektive zu sehen und dann gemeinsam zu prüfen, wo geteilte Werte und Ziele vorliegen.
Kommunale Grundsatzerklärung
Alternativvorschlag: In einer Kommune, in der es aktuell vergleichsweise wenig Vorfälle gibt, haben die Bürgermeisterin, Zivilgesellschaftliche Engagierte, die Polizei und Mitarbeitende der Verwaltung einen kommunaöen Aktionsplan für ein demokratisches Miteinander erarbeitet. Wir begleiteten diesen Entwicklungsprozess – alle Stakeholder, von Gewerkschaft über linke Jugend bis zur CDU, mussten sich einigen. Das war nicht konfliktfrei, aber sehr fruchtbar. Am Ende hat der Stadtrat den Aktionsplan einstimmig verabschiedet.
Was ist aus deiner Sicht das wichtigste Learning?
Vernetzung ist das A und O – sowohl zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren als auch innerhalb der Zivilgesellschaft. Wo das nicht möglich ist, fokussieren wir auf Empowerment. Aber klar ist auch: Bedrohungen müssen durch den Rechtsstaat beantwortet werden. Ohne Polizei, ohne entsprechende Repression, ohne funktionierende Verwaltung geht es nicht. Das ist manchmal eine große Herausforderung, weil es ja auch z. B. in der Polizei gelegentlich zweifelhafte Vorfälle gibt und nicht jedes Misstrauen seitens der Engagierten aus der Luft gegriffen ist. Es braucht die Bereitschaft zur Zusammenarbeit – auf allen Ebenen.
Was können zivilgesellschaftlich Aktive tun, wenn sie keine Unterstützung von kommunalen / staatlichen Stellen erhalten?
Es ist wichtig, dass sie untereinander möglichst breite Netzwerke knüpfen und sich gegenseitig stützen. Außerdem sollten sie sich professionalisieren, um Einfallstore für Bedrohungslagen zu vermeiden. Aber die Möglichkeiten, sich selbst zu schützen, sind begrenzt. Es kommt darauf an, wie die Bedrohung aussieht: Handelt es sich z. B. um Hass im Netz, gibt es Konzepte, die auch ohne den Staat funktionieren. Man kann beispielsweise einem Shit Storm einen sogenannten „Love Storm“ digitaler Zivilcourage entgegensetzen. Aber bei Bedrohungen gegen Leib und Leben ist es schwierig, sich selbst zu schützen.
Es gibt auch überall in Deutschland Betroffenen-Beratungsstellen, die Betroffene von extremistischer Gewalt unterstützen und helfen, im Kontakt mit der Polizei voran zu kommen. Hier kann es auch sinnvoll sein, sich direkt an die Opferbeauftragten der Polizei zu wenden oder mit dem Dezernat Staatsschutz Kontakt aufzunehmen. Diese Stellen sind oft geschulter im Umgang mit solchen Themen als z. B. ein normaler Streifenpolizist.
Empfehlenswert ist es auch, sich an Schlüsselorganisationen vor Ort zu wenden, z. B. an Freiwilligen-Agenturen, PfDs – es gibt eigentlich in jedem Landkreis Organisationen, die sich mit Engagement auskennen.
Was würdest du dir wünschen, damit zivilgesellschaftliches Engagement sicherer und selbstverständlicher wird?
Einerseits wünsche ich mir, dass es konkrete Anlaufstellen für Menschen gibt, die sich engagieren möchten – da ist das Angebot vor allem im ländlichen Raum sehr gering. Andererseits wünsche ich mir mehr Wertschätzung und Sensibilität für pro-demokratisches Engagement von Gesellschaft und politischen Verantwortungstragenden. Es muss wahrgenommen werden, unter welchem Druck diese Leute in manchen Regionen angesichts des wachsenden Rechtspopulismus und der verbreiteten Demokratieskepsis stehen. Außerdem wäre es schön, wenn es fixe Treffpunkte gäbe, wo sich Vertreter*innen aus zivilgesellschaftlichen und staatlichen Bereichen austauschen können, damit sie zu einem geteilten Lagebild kommen.
Abschließend: Wie geht es jetzt weiter? Wird das Projekt fortgeführt?
Das werden wir erst sehen. Durch die Neuwahl der Bundesregierung letztes Jahr ist dieses Projekt leider erstmal auf Eis. Wir hoffen auf eine neuerliche Ausschreibung zum Thema kommunale Schutzkonzepte, auf das wir uns wieder bewerben dürfen. Natürlich versuchen wir mit unseren begrenzten Mitteln das Thema weiter im Rahmen anderer Projekte zu bearbeiten, aber Fakt ist auch, dass wir derzeit keinerlei Förderung für dieses Themenfeld haben. Um so mehr freuen wir als Verein uns über Spenden, die es uns ermöglichen weiter am Thema zu arbeiten.
Links
Praxisleitfaden „Zivilgesellschaft stärken und schützen“
Opferbeauftragte und zentrale Anlaufstellen der Bundesländer
Verband der Beratungsstellen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt
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