NGOs & Politik: Schlägt man in Europa nun den russischen Weg ein?
Nichtregierungsorganisationen spielen in modernen Gesellschaften eine essenzielle Rolle. Sie setzen sich für Menschenrechte, Umwelt- und Klimaschutz sowie soziale Gerechtigkeit ein. Doch in vielen Ländern geraten sie zunehmend unter Druck. Besonders in Russland verfolgt die Regierung schon seit Jahrzehnten eine restriktive Politik gegen NGOs, die als unerwünscht oder ausländisch finanziert gelten. Dass es sich dabei vor allem um kritische und progressiv eingestellte Organisationen handelt, ist wenig überraschend. Diese Entwicklungen haben auch Auswirkungen auf Europa, wo sich einige politische Akteure für eine striktere Regulierung von NGOs nach russischem Vorbild einsetzen. Doch es gibt auch starke Gegenstimmen.
Das russische Modell: Kontrolle durch das „Agentengesetz“
In Russland wurde 2012 das sogenannte „Agentengesetz“ verabschiedet. Es verpflichtet NGOs, die finanzielle Mittel aus dem Ausland erhalten und „politische Aktivitäten“ ausüben, sich als „ausländische Agenten“ registrieren zu lassen. Diese Bezeichnung, die aus der Sowjetzeit stammt, hat eine stigmatisierende Wirkung und erschwert die Arbeit der Organisationen erheblich. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilte Russland im Juni 2024 und bezeichnete das Gesetz als „stigmatisierend und irreführend“. Der EGMR stellte fest, dass es „die Meinungsfreiheit verletzt und Merkmale eines totalitären Regimes aufweist“ (rsw.beck.de).
Besonders hart trifft es Menschenrechtsorganisationen wie Memorial, die im Dezember 2021 zwangsweise aufgelöst wurde. Memorial setzte sich jahrzehntelang für die Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen und den Schutz der Menschenrechte ein. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kritisierte die Maßnahme als „eklatanten Angriff auf die Zivilgesellschaft“.
Europäische Debatten: Kontrolle oder Schutz der NGOs?
Auch in Europa gibt es zunehmend Stimmen, die für eine strikte Kontrolle von NGOs plädieren. Ein aktuelles Beispiel ist die CDU/CSU-Fraktion in Deutschland, die im Februar 2025 eine umfangreiche Anfrage an die Bundesregierung stellte. In 551 Fragen wurde nach der Finanzierung von NGOs gefragt, die gegen Rechtsextremismus demonstrieren. Ziel war es, die Geldquellen von Organisationen wie „Omas gegen Rechts“, Greenpeace und dem BUND offenzulegen. Friedrich Merz (CDU) und Alexander Dobrindt (CSU) argumentierten, dass staatlich finanzierte Organisationen politisch neutral bleiben müssten. Merz erklärte: „Es geht nicht darum, kritische Stimmen zu unterdrücken, sondern um Transparenz. Der Staat darf keine Organisationen finanzieren, die sich einseitig in den Wahlkampf einmischen“ (bild.de). Dass z. B. Greenpeace grundsätzlich keine Gelder von Staaten annimmt, spielt scheinbar keine Rolle.
Diese Initiative rief scharfe Kritik hervor. Die Grünen und die Linke bezeichneten die Anfrage als „unverhältnismäßigen Angriff auf die Zivilgesellschaft“. Sven Giegold (Grüne) warnte: „Wir dürfen nicht zulassen, dass das russische Modell der NGO-Kontrolle bei uns Einzug hält. Der Staat muss die Zivilgesellschaft stärken, nicht schwächen“ (welt.de).
Ungarn als Vorreiter eines restriktiven NGO-Kurses
In Ungarn hat Premierminister Viktor Orbán ebenfalls strikte Maßnahmen gegen NGOs ergriffen. Bereits 2017 verabschiedete seine Regierung ein Gesetz, das NGOs mit ausländischer Finanzierung als „ausländische Einmischung“ brandmarkte. 2021 hob der Europäische Gerichtshof das Gesetz als unrechtmäßig auf, doch die ungarische Regierung hat neue Einschränkungen eingeführt.
Orbán verfolgt auch in anderen Bereichen eine konservative Agenda. Jüngst drohte er mit einem Verbot des Christopher Street Day (CSD) in Budapest und einer Verfassungsergänzung, die festlegt, dass es nur zwei Geschlechter gebe (queer.de). Diese Entwicklungen zeigen, dass in Teilen Europas eine ideologische Auseinandersetzung um den Einfluss und die Rolle von NGOs geführt wird.
Weitere Entwicklungen in Europa
Auch in Frankreich gibt es Bestrebungen, NGOs stärker zu regulieren. Präsident Emmanuel Macron hat sich in der Vergangenheit kritisch über den Einfluss international finanzierter NGOs geäußert, insbesondere im Bereich der Klimapolitik und der Migration. Die französische Regierung diskutiert derzeit über eine Gesetzesreform, die mehr Transparenz bei der Finanzierung von NGOs fordert.
In Italien unter Premierministerin Giorgia Meloni ist die Regulierung von NGOs, die Geflüchtete retten, ein zentrales Thema. Die Regierung hat bereits neue Auflagen eingeführt, die die Arbeit von Seenotrettungsorganisationen wie Sea-Watch oder SOS Méditerranée erheblich erschweren.
In Polen, wo die rechtskonservative PiS-Partei bis 2023 an der Macht war, wurde ebenfalls versucht, NGOs stärker unter staatliche Kontrolle zu bringen. Mit dem Regierungswechsel im Jahr 2024 ist jedoch eine Lockerung der Restriktionen zu erwarten.
Die Haltung der EU zur NGO-Debatte
Die Europäische Union sieht die Einschränkungen von NGOs kritisch und betont deren Rolle als wesentliche Stütze der Demokratie. Die EU-Kommission hat in mehreren Berichten auf die Gefahr hingewiesen, dass die Einschränkung von NGOs Grundrechte und die Rechtsstaatlichkeit in Europa gefährden könnte. In ihrem jüngsten Rechtsstaatlichkeitsbericht warnte die Kommission vor „zunehmenden Maßnahmen zur Delegitimierung und Kontrolle zivilgesellschaftlicher Organisationen in bestimmten Mitgliedstaaten“. Insbesondere Ungarn und Polen standen hier wiederholt in der Kritik.
Die EU hat zudem 2024 einen neuen Fonds zur Unterstützung unabhängiger NGOs aufgelegt, um deren Arbeit zu sichern und eine „lebendige europäische Zivilgesellschaft“ zu stärken. Damit setzt sie ein klares Zeichen gegen den zunehmenden Druck auf NGOs in einigen Mitgliedstaaten.
NGOs springen dort ein, wo der Staat versagt
Was in der Debatte viel zu kurz kommt: NGOs verrichten häufig Arbeit, die eigentlich eine Verpflichtung des (Sozial-)Staates wäre. Man denke z. B. an die Unterstützung von armutsgefährdeten Personen über Tafeln, medizinische Angebote, Haushalts- und Kinderbetreuungshilfen, etc. Auch die Pflege von Senior*innen wird sehr häufig von NGOs übernommen. Für den Staat ist es immer noch die günstigste Variante, solche Aufgaben an NGOs “auszulagern” und durch private Spenden finanzieren zu lassen. Die staatlichen Zuschüsse kommen günstiger, als sich selbst darum kümmern zu müssen.
Organisationen, die ein so essentieller Teil der Gesellschaft sind, müssen und dürfen auch politisch agieren. Ihre Macht – die ohnehin geringer ist, als derzeit propagiert – ist gerechtfertigt, denn ohne sie käme der Staat gewaltig unter Druck. Man stelle sich bloß vor was passieren würde, wenn z. B. das Rote Kreuz seine Pflegearbeit einstellen würde, weil ihnen staatliche Gelder entzogen werden. Wer kümmert sich dann um die vielen Klient*innen? Die Staaten hätten das nicht im Kreuz.
Ein europäischer Scheideweg?
Die Debatte um die Regulierung von NGOs in Europa ist hochaktuell. Während konservative Parteien in Deutschland und anderen Ländern eine strikte Kontrolle fordern, sehen viele NGOs und progressive Parteien darin eine Gefahr für die Meinungsfreiheit. Die Entwicklungen in Russland und Ungarn dienen hier als mahnende Beispiele.
Die kommenden Jahre werden zeigen, in welche Richtung sich Europa bewegt. Wird es den Kurs Russlands und Ungarns einschlagen, oder wird es seine Tradition einer offenen und pluralistischen Zivilgesellschaft verteidigen? Die Antwort darauf wird entscheidend dafür sein, wie demokratische Grundwerte in der EU in Zukunft ausgestaltet werden.