Radikalisierung im Aufwind – Was bedeutet das für NGOs?
Extremistische Bewegungen nutzen das Netz, um junge Menschen gezielt anzusprechen – mit Memes, Musikvideos und Gamification. Das zeigte Extremismusforscherin Julia Ebner in ihrem eindrucksvollen Webinar „Mass Radicalisation on the Rise“, einer Keynote organisiert von der NGO Academy. Ihre Botschaft ist klar: Radikalisierung ist kein Randphänomen mehr. Sie ist strategisch, digital – und mitten unter uns. Für NGOs ergibt sich daraus nicht nur ein Risiko, sondern auch eine Aufgabe.
Wer ist Julia Ebner?
Julia Ebner ist Bestsellerautorin (Radikalisierungsmaschinen, Wut, Going Dark) und forscht seit Jahren zu Extremismus und digitaler Manipulation. Sie arbeitet undercover in Online-Netzwerken und analysiert Strategien von Rechtsextremen, Islamisten und Verschwörungsideolog*innen. Ihre Erkenntnisse machen deutlich: Die Methoden der Propaganda sind professionell, perfide – und erschreckend erfolgreich.
Die neue Propaganda ist jung, visuell und vernetzt
Flugblätter und miefige Kellerstuben waren gestern. Radikalisierung ist schon längst digital geworden, das Internet ein Raum, in dem vieles unreguliert gesagt werden kann – und gesagt wird. Extemist*innen haben die aktuellen Trends erkannt und nutzen sie geschickt zur Rekrutierung.
Extremistische Gruppen setzen heute auf:
- Gamification und Entertainment – ein gefährlicher Trend vor allem in Gaming- und Meme-Kulturen. So werden vor allem junge Leute angesprochen und mit alternativen Narrativen und Identitäten verlockt.
- Alt-Tech-Ökosysteme – von Social Media bis Dating-Apps, wo Inhalte schwer moderiert werden, Extremist*innen haben längst ihre eigenen Plattformen. Einmal in diese Bubble gestolpert, verfallen Menschen schnell extremistischen Narrativen.
- Digitale Trolling-Armeen – mit dem Ziel, Kritiker*innen mundtot zu machen und den öffentlichen Diskurs zu verschieben. Wir sehen sie mittlerweile auch wieder vermehrt auf Mainstream-Plattformen wie X oder Facebook, wo sie ihre Ideologien in den Kommentarspalten platzieren und damit das gesellschaftlich akzeptierte Sagbare verschieben.
- Ideologische Flexibilität – was zählt, ist nicht Logik, sondern Resonanz. So entsteht ein „Extremismus-Salatbuffet“, das individuelle Ängste und Zugehörigkeitswünsche bedient. Es ist möglich, sich aus den verschiedensten extremistischen Richtungen seine eigene Ideologie zu zimmern. Misogynie, Verschwörungstheorien, religiöser Fanatismus und Rassismus vermischen sich. Besonders bei jungen Menschen entstehen durch traumatische Erlebnisse oder den Wunsch nach Zugehörigkeit sogenannte Identitätsfusionen – persönliche und Gruppenidentität verschmelzen.
Erschreckend: Es gibt sogar punktuelle Kooperationen zwischen rechtsextremen und islamistischen Gruppen, z. B. bei Waffenbeschaffung oder der Verbreitung gemeinsamer Narrative.
Der „Mainstreaming Process“ der Radikalisierung
Julia Ebner beschreibt einen gefährlichen Normalisierungsprozess:
- Subkulturen schaffen
- Netzwerke kultivieren
- Alternative Medien boosten
- Gegenreaktionen provozieren
- Massen mobilisieren
- Stellvertreterkriege führen
So entsteht gesellschaftliche Einflussnahme, die weit über Parteipolitik hinausgeht. Politische Mitte, Jugendkultur und digitale Räume werden gezielt unterwandert.
Was bedeutet das für NGOs?
NGOs stehen in der Öffentlichkeit – und das macht sie zu potenziellen Angriffszielen. Aber es gibt konkrete Schritte, um mit dieser neuen Realität umzugehen.
1. Angriffsflächen erkennen – und sich gezielt absichern
Teams schulen
Trolling, Shitstorms und gezielte Provokationen sind in vielen Themenbereichen auf Social Media Alltag geworden. Mitarbeitende sollten also gut geschult im Umgang mit diesen schwierigen Situationen sein und kompetent reagieren können. Dazu gehört auch die Vorbereitung auf den Ernstfall: Wenn der Angriff kommt, sollte das Team durch klare Rollen, Botschaften, Vorlagen und Eskalationswege handlungsfähig sein.
Digitale Sicherheit
Auch Hackerangriffe gehören leider mittlerweile zum Alltag. Zahlreiche Gruppierungen nutzen dieses Mittel, um ideologische “Feinde” anzugreifen und zu schwächen. Auch NGOs sollten entsprechende Sicherheitsmaßnahmen etablieren und auf den Ernstfall vorbereitet sein.
Monitoring-Tools nutzen
Wer die Stimmung im Netz laufend beobachtet, ist frühzeitig informiert und gewarnt. So kann einfacher gegengesteuert werden, um die Situation abzuwenden oder zumindest abzuschwächen.
2. Digitale Räume zurückerobern – mit Haltung UND Humor
Extremismus verbreitet sich dort, wo junge Menschen sich zu Hause fühlen – in Subkulturen, Fandoms, auf Twitch und in Kommentarspalten. Dort verbreiten sich Wertvorstellungen, die meist mit jenen einer offenen, demokratischen Kultur nicht vereinbar sind. Als zivilgesellschaftliche Akteurinnen können Organisationen einen Gegenpol schaffen, in dem sie:
- aktive Präsenz zeigen, z. B. in Gaming-Communities oder Popkultur-Formaten.
- eigene Content-Formate entwickeln, die Werte vermitteln, ohne belehrend zu wirken.
- Kooperationen eingehen, z. B. mit Creators, Streamer*innen oder Jugendinitiativen.
- visuelle Sprache sprechen – Memes, Clips, interaktive Elemente: So werden auch komplexe Themen anschlussfähig.
3. Werte sichtbar machen – statt nur darüber zu sprechen
Vertrauen entsteht nicht durch Slogans, sondern durch Taten. Die Werte einer Organisation sollten deshalb aktiv gelebt werden, z. B. durch Diversität im Team, Beteiligungsmöglichkeiten und transparente Kommunikation. Es ist wichtig, öffentlich Haltung zu zeigen, auch wenn sie unbequem ist und Gegenwind provoziert. Das verleiht Glaubwürdigkeit und damit wichtiges Kapital im Kampf gegen extremistische Strömungen.
Das Erzählen von Geschichten ist schon seit Anbeginn der Menschheit ein funktionierendes Mittel, um Werte und Erfahrungen weiterzugeben. NGOs können die Macht des Storytellings nutzen, um Geschichten zu erzählen, die Mut machen, Identifizierung ermöglichen und Mut machen, statt Angst zu schüren.
4. Fundraising in einem radikalisierten Umfeld
Es kann herausfordernd sein, in einer (Online-)Welt zu fundraisen, in der extremistische Positionen salonfähig geworden sind. So kann schon ein einfaches Bild eines dunkelhäutigen Kindes aus einem Projekt für einen Shitstorm sorgen. Davon sollten wir uns aber nicht einschüchtern lassen. Im Gegenteil: Je mehr Gegenwind uns ins Gesicht bläst, desto lauter müssen wir werden.
Um vor allem den gefährdeten jungen Menschen eine Alternative zu Radikalisierung zu geben, sollte Fundraising nicht nur um Spenden bitten, sondern ein Angebot zur Zugehörigkeit machen und eine Community anbieten. Menschen wollen ein Teil der Lösung sein. Auch Identifikation spielt eine große Rolle, und die ist eng verknüpft mit Werten. Daher sollte Fundraising auch immer klar kommunizieren, wofür die Organisation steht und was auf dem Spiel steht.
Haltung und Handlung gegen (Online-)Radikalisierung
Die Gegenwart fordert Einiges von demokratischen und progressiven Strömungen. Sie müssen einen Gegenpol zu extremistischen Inhalten darstellen und gerade junge Menschen ansprechen, die anfällig für extremistische Propaganda sind. Weiterbildung, Schulung, das Bilden von Netzwerken und Communities sind wichtiger als je zuvor.
NGOs sind heute nicht mehr “nur” Gutes-Tuer, sondern Bollwerke für ein demokratisches Werteset. Sie können identitätsstiftend wirken und eine echte Alternative zu extremistischen Gemeinschaften darstellen, wenn sie sichtbar bleiben – in den Medien, aber vor allem in den Lebenswelten junger Menschen.
Hinweis: Julia Ebners Bücher sind eine wertvolle Lektüre für alle, die Radikalisierungsprozesse verstehen und ihnen aktiv entgegenwirken wollen. Besonders „Radikalisierungsmaschinen“ bietet konkrete Einblicke in digitale Propagandatechniken – lesenswert für jede Kommunikationsabteilung.
Das Webinar kann auch hier nachgesehen werden: NGO Academy