Wie können NGOs Menschen zum Ehrenamt motivieren? Einblicke aus einer neuen Studie
Sie kümmern sich freiwillig um Tierheim-Tiere, kontrollieren Tickets beim Benefiz-Event, helfen Geflüchteten beim Deutschlernen und halten medienwirksam Plakate in Kameras: Ehrenamtliche sind eine unverzichtbare Stütze für NGO-Arbeit. Doch wie lassen sich engagierte Menschen finden und binden? Eine Dissertation aus den USA bringt hierzu aufschlussreiche Erkenntnisse und liefert Hinweise, wie NGOs ihre Freiwilligenarbeit strategisch ausrichten können.
Die Studie: Persönlichkeit trifft Gemeinwohlmotivation
Die Bildungswissenschaftlerin Lisa Michelle Kautz untersuchte in ihrer Dissertation (Grand Canyon University, 2025), ob und in welchem Ausmaß Persönlichkeitsmerkmale die sogenannte Public Service Motivation (PSM) von Ehrenamtlichen vorhersagen können. PSM beschreibt die innere Motivation eines Menschen, sich für das Gemeinwohl einzusetzen – also den klassischen Antrieb für freiwilliges Engagement im Nonprofit-Sektor. Die Wissenschaftlerin befragte für die Studie 104 Ehrenamtliche aus Organisationen in Arizona mittels standardisierter Fragebögen.
Als theoretisches Fundament diente das HEXACO-Modell der Persönlichkeit, das sechs Dimensionen umfasst.
Was ist das HEXACO-Modell der Persönlichkeit?
Das HEXACO-Modell der Persönlichkeit wurde von den Psychologen Kibeom Lee und Michael C. Ashton Anfang der 2000er Jahre entwickelt. Es basiert auf Forschung zur Persönlichkeitsstruktur und erweitert das bekannte Fünf-Faktoren-Modell („Big Five“) um eine sechste Dimension: Honesty-Humility (Ehrlichkeit-Bescheidenheit). Der Name „HEXACO“ steht für die Anfangsbuchstaben der sechs Persönlichkeitsdimensionen:
- Honesty-Humility (Ehrlichkeit-Bescheidenheit): Neigung zu Aufrichtigkeit, Fairness, Bescheidenheit und Verzicht auf Ausbeutung anderer.
- Emotionality (Emotionalität): Empfindsamkeit gegenüber Ängsten, Sorgen und emotionalen Bindungen; umfasst Eigenschaften wie Empathie und Fürsorglichkeit.
- Extraversion: Geselligkeit, Energie, Durchsetzungsvermögen und Freude am sozialen Austausch.
- Agreeableness (Verträglichkeit): Geduld, Nachgiebigkeit, Vergebungsbereitschaft und Harmoniestreben.
- Conscientiousness (Gewissenhaftigkeit): Ordnungssinn, Zuverlässigkeit, Pflichtbewusstsein und Streben nach Zielerreichung.
- Openness to Experience (Offenheit für Erfahrungen): Neugierde, Kreativität, Sinn für Ästhetik und Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Ideen und Erlebnissen.
Das Modell wird zunehmend in der Forschung genutzt, weil es insbesondere moralische Aspekte von Persönlichkeit (wie Ehrlichkeit und Bescheidenheit) stärker abbildet als frühere Modelle.
Ergebnisse: Offenheit, Extraversion und emotionale Empfänglichkeit zählen
Die Kernergebnisse überraschen und bestätigen zugleich:
Emotionalität, Extraversion und Offenheit für Erfahrungen zeigten starke positive Zusammenhänge mit Gemeinwohlmotivation.
Die Merkmale Ehrlichkeit-Bescheidenheit, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit hatten dagegen keinen relevanten Einfluss.
Was bedeutet das für die Praxis der Freiwilligenarbeit?
Die Ergebnisse bieten wertvolle Anhaltspunkte für die Freiwilligenarbeit in NGOs – sowohl in der Ansprache als auch in der Bindung von Ehrenamtlichen.
1. Persönlichkeitsmerkmale gezielt ansprechen
Freiwillige mit hoher Offenheit, Extraversion und emotionaler Empfänglichkeit sind besonders empfänglich für sinnstiftendes Engagement. In der Kommunikation können NGOs gezielt darauf eingehen:
- Verwende emotionale Sprache, die Empathie und Gemeinschaft betont.
- Stelle die Vielfalt der Aufgaben in den Vordergrund – offene Personen schätzen neue Erfahrungen.
- Biete soziale Settings und Kontaktmöglichkeiten – extrovertierte Menschen möchten sich austauschen und vernetzen.
2. Matching und Passung in der Rollenverteilung
Die Studie legt nahe: Nicht jede*r passt auf jede Rolle. Stattdessen lohnt sich ein einfaches Matching:
- Emotional einfühlsame Menschen eignen sich gut für Aufgaben mit direktem Personenkontakt, z. B. in der Beratung, im Besuchsdienst oder in der Betreuung.
- Extrovertierte lassen sich gut für öffentliche Aktionen, Events oder Fundraising gewinnen.
- Offene Freiwillige können gut in kreative Prozesse, Bildungsarbeit oder Innovationsprojekte eingebunden werden.
Ein kurzer Persönlichkeitscheck (z. B. durch Selbstreflexionsfragen im Erstgespräch) kann helfen, passende Einsatzfelder zu finden – zur Zufriedenheit aller Beteiligten.
3. Motivation nicht allein auf Altruismus gründen
Überraschend: Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit – oft mit altruistischem Verhalten assoziiert – waren in dieser Studie keine Prädiktoren für Public Service Motivation. Das zeigt: Die klassische Vorstellung vom „selbstlosen Ehrenamt“ greift zu kurz.
Stattdessen ist es legitim und sogar förderlich, wenn Freiwillige auch persönliche Bedürfnisse – wie soziale Zugehörigkeit, Selbstwirksamkeit oder neue Erfahrungen – über ihr Engagement erfüllen wollen. NGOs sollten dies aktiv anerkennen und in ihre Freiwilligenstrategie integrieren.
Checkliste: So schreibst du freiwilligenfreundliche Ausschreibungen
1. Emotionen ansprechen
- Beschreibe konkrete Auswirkungen der Hilfe („Du schenkst Menschen Hoffnung“, „Dein Einsatz verändert Leben“).
- Verwende warme, empathische Begriffe (Hoffnung, Freude, Mut, Gemeinschaft).
- Vermeide abstrakte Begriffe („Verbesserung sozialer Standards“, „operative Unterstützung“).
2. Gemeinschaft betonen
- Lade zur Zusammenarbeit ein („Werde Teil eines lebendigen Teams“, „Gemeinsam bewirken wir mehr“).
- Zeige echte Beispiele für Begegnung und Austausch (z. B. Fotos von Events, Testimonials von Freiwilligen).
- Vermeide Formulierungen, die Isolation nahelegen („eigenständiges Arbeiten im Hintergrund“).
3. Vielfalt und Entwicklung hervorheben
- Stelle verschiedene Aufgabenbereiche und Lernmöglichkeiten vor („Entdecke neue Talente“, „Bringe eigene Ideen ein“).
- Gib Freiraum für Eigeninitiative und Weiterentwicklung.
- Vermeide starre Abläufe („feste Aufgabenpakete nach Prozessvorgabe“).
4. Direkte Ansprache und niedrigschwellige Einladung
- Sprich die Interessierten direkt an („Du kannst etwas bewirken!“).
- Senke Einstiegshürden („Unkomplizierter Start möglich“, „Wir begleiten dich beim Einstieg“).
5. Klarheit über Sinn und Mission
- Mache deutlich, warum Engagement wichtig ist – nicht nur was zu tun ist.
- Verknüpfe jede Aufgabe sichtbar mit der Gesamtmission Deiner Organisation.
Persönliche Weiterentwicklung schlägt Selbstlosigkeit
Die Dissertation von Lisa Michelle Kautz räumt mit der Vorstellung von selbstlosem Ehrenamt auf. Vielmehr sind es die persönlichen Weiterentwicklungsmöglichkeiten, die Menschen dazu motivieren, sich in die NGO-Arbeit einzubringen. Das ist ein wertvoller Ansatzpunkt, um Freiwilligenarbeit psychologisch fundierter und wirksamer zu gestalten.
Denn klar ist: Wer die inneren Antriebskräfte seiner Zielgruppen kennt, kann bessere Beziehungen gestalten – und genau das brauchen wir, um das zivilgesellschaftliche Engagement langfristig zu sichern.